CARL LEBERECHT IMMERMANN
(1796-1840)

IMMERMANN im INTERNET






Ausgewählte Rezension 2020


Monika Hennemann, Felix Mendelssohn Bartholdys Opernprojekte, Hannover 2020-


Wer sich mit der Biographie Immermanns befasst, stößt unweigerlich auf dessen Beziehung zu Felix Mendelssohn-Bartholdy. Hierbei stellt sich schnell die Frage, wem von beiden die Schuld am Scheitern der Zusammenarbeit gegeben werden sollte. Monika Hennemann, die 2020 ihre musikwissenschaftliche Dissertation an der Universität Mainz zum Thema "Felix Mendelssohn-Bartholdys Opernprojekte im kulturellen Kontext der deutschen Opern- und Librettogeschichte 1820-1850" veröffentlicht hat, kann zwar diese Frage letztendlich auch nicht endgültig beantworten, aber sie liefert als erste überhaupt die Übersicht über die Grundlagen, die für eine Beantwortung dieser Frage unverzichtbar sind.

Als für die Immermannforschung am wichtigsten muss man die überhaupt erste Publikation der erhaltenen Teile des Librettos von Immermann zu Shakespeares "Sturm" (S. 627-659 der Arbeit von Hennemann) bezeichnen. Dieses Libretto-Torso (es liegen nur die Akte 2 und 3 vor, der erste Akt ist verschollen) war nämlich bisher so gut wie gar nicht bekannt, da es nur handschriftlich im Goethe- und Schillerarchiv in Weimar zugänglich war.

Bei der Betrachtung der Beziehung zwischen Immermann und Mendelssohn sind zwei Phasen zu trennen. Die erste Phase ist diejenige, in der Mendelssohn sich bei Immermann um jenes Libretto bemüht, es aber schließlich als nicht komponierbar ablehnt. Zeitlich ist diese Phase auf die Jahre 1831 und 1832 beschränkt. Im November 1831 reiste Mendelssohn nach Düsseldorf und bat Immermann um die Erstellung eines Librettos zu Shakespeares "Sturm", im August 1832 lehnte Mendelssohn die Komposition dieses Librettos endgültig ab. Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen beiden und mit Drittpersonen dokumentieren bei Hennemann diese Phase ausführlich (besonders S. 134-141).

Als zweite Phase der Zusammenarbeit kann dann die Zusammenarbeit beider am Düsseldorfer Theater 1833 bis 1834 bezeichnet werden. Schon vor seiner Anstellung in Düsseldorf hatte Mendelssohn das 15. Niederrheinische Musikfest leiten dürfen und während seiner Anstellung dann vier Bühnenmusiken verfasst, eine zu Calderons "Der standhafte Prinz" (noch ohne Kenntnis der Bearbeitung von Immermann) und drei zu Werken Immermann, nämlich zu "Andreas Hofer", zu "Kurfürst Johann Wilhelm im Theater" und zu "Alexis". Hennemann untersucht auch diese zweite Phase unter Verwendung bisher unveröffentlichter Schreiben Mendelssohn, die sie im Anschluss an den Librettotext im Anhang erstmals veröffentlicht (S. 660-663).

Dankenswerterweise druckt Hennemann also nicht nur unveröffentlichtes Material ab, sondern widmet der Beziehung zwischen Immermann und Mendelssohn ein ganzes (Teil-)Kapitel ihrer Arbeit (S. 132-157). Weiterhin kommen zahlreiche bisher weitgehend unbekannte Aspekte zur Sprache, wie etwa die in der Forschung noch überhaupt nicht thematisierte Tagebuchnotiz Mendelssohns von 1842 (also nach Immermanns Tod), er plane eine Oper zu "Tristan und Isolde von Immermann" (S. 52), ein Projekt, das in der schon 123 Opernprojekte Mendelssohns umfassenden Liste am Ende des Buches (S. 612-621) noch nicht einmal erwähnt wird. Hier könnte zusätzlich eine zumindest hypothetische Hinleitung von Mendelssohns über Robert Schumanns Tristan-Projekt bis hin zu Richard Wagner interessant sein und aus der Sicht der Immermannforschung wäre möglicherweise noch Unbekanntes zu entdecken.

Interessant sind auch andere Details, etwa dass Mendelssohn sich bei der Beurteilung von Immermanns Libretto zum "Sturm" vom Komponisten Adolf Bernhard Marx Hilfe z. B. von Devrient erhoffte (S. 112) und in seiner Ablehnung unterstützt wurde; oder auch die Tatsache, dass Mendelssohn Immermann als Librettisten gegen den Rat seines Vaters (der überhaupt erst der Anreger der Opernidee war, s. S. 250) wählte, der nämlich meinte, Immermann sei zu sehr Schriftsteller für ein gutes Libretto. Hierher gehört auch die Einschätzung Hennemanns, dass es bemerkenswert sei, dass beim Vergleich von Vorlage und Libretto im Falle Immermanns der "Qualitätsunterschied zuungunsten der Libretti" (S. 70) auffällig sei. Hier muss man sagen, dass dies bei jedem Libretto (also nicht nur bei dem von Immermann) der Fall ist.

Im Anschluss an die Besprechung der ersten Phase untersucht die Autorin auch kurz (S. 141-142) den erst 2005 von Eva Beck (im Immermann-Jahrbuch 6 von 2005, S. 9-33) ausführlicher untersuchten zweiten Versuch Immermanns, ein Libretto für Mendelssohn nach einem seiner eigenen Werke, nämlich nach "Das Auge der Liebe" zu verfassen. Das Unterkapitel schließt mit einer Beschreibung der Eigenschaften Immermanns, die für seine Eignung als Librettist gesprochen haben könnten.

Man kann also sagen, dass es geradezu das Verdienst von Hennemann ist, Problemkomplexe überhaupt erst zu anzuregen oder mindestens wiederzuentdecken. So begleitet die Frage nach einem Libretto zu Shakespeares "Sturm" Mendelssohn zeitlebens, denn Immermann war nur der erste, der für ein solches Projekt als Librettist in Frage kam, wie die Auflistung am Ende des Buches zeigt. Immermanns Libretto ist als Nr. 12 der Opernprojekte gelistet, aber Nr. 15 nennt eine Anfrage bei Scribe, einem der wichtigsten Librettisten der Zeit. Weitere Versuche, dieses Sujet als Opernvorlage zu verwenden, sind in den Nummern 54 und 57 (von 1841), Nummer 90 (von 1843) und den Nummern 112a, 114 und 114a (von 1846/47) aufgelistet. Ob schließlich die undatierten Skizzen zum Ablauf einer "Sturm"-Oper (Nr. 121, Faksimile auf S. 66) nicht vielleicht doch zu Immermanns Entwurf passen und welcher Zusammenhang diese Projekte untereinander (und speziell zu Immermann) haben, harrt auch noch weiterer Untersuchung.

Es gibt noch viele weiteren interessante Aspekte in Hennemanns Veröffentlichung. Kapitel 1 bietet nach einer grundsätzlichen Einleitung eine Zusammenfassung der Umstände zur Opernkomposition der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kapitel 2 befasst sich ausführlich mit Mendelssohns Verhältnis zur Oper und hierbei macht das Immermann ausführlich betreffende Kapitel 2.4 nur einen kleinen Teil der Untersuchung aus. Kapitel 3 und 4 listet potentielle längst (möglicherweise aber unverdient, mindestens aber interessante) vergessene Librettisten Mendelssohns auf und untersucht diese erstmals. Kapitel 5 und 6 resümieren die Ergebnisse der Arbeit, der Anhang (Kap. 7) bietet neben der schon genannten Auflistung und dem schon erwähnten Libretto Immermanns im Erstdruck weitere Materialen.

An der Arbeit von Hennemann sind nur wenige Punkte kritisch zu bemerken. Erwähnenswert ist vielleicht der Irrtum, dass es sich bei der Immermann-Werkausgabe von Benno von Wiese um eine Gesamtausgabe handelt, die eigentlich das Libretto hätte aufnehmen müssen (S. 25). Ferner könnte man das Register am Schluss bemängeln, dass aber zumindest grob zuverlässig ist, wenn auch nicht immer ganz exakt. Im Literaturverzeichnis weist gerade bei Immermann der Zeilenumbruch einen Druckfehler auf. Aber das sind (ebenso wie der falsche Hinweis zur neuen Rechtschreibung auf S. 19) Marginalien, über die man angesichts der Leistungen gerne hinwegsieht.

Man muss auch darauf hinweisen, dass aus der Sicht des Gesamtthemas der Arbeit Hennemanns die Immermann-Bezüge letztlich nur Nebenprodukte sind, denn ihr Hauptaugenmerk liegt ja nicht auf Immermann, sondern auf Mendelssohns immerhin über 100 Opernprojekten, zu deren Librettisten sie erst einmal die Quellen ermitteln musste. Für die an Immermann interessierten Leser sind die entsprechenden Kapitel 2.4 und der Anhang (besonders Kapitel 7.4) allerdings ein absolutes Muss, insbesondere weil sich durch die Publikation des Librettos von Immermann nun jeder Leser ein eigenes Urteil hierüber bilden kann.


Thomas Miller